„Lieber
Jean, ich bin in der Schweiz. Ich fahre jeden Tag Ski. Die Bäume sind
ganz weiß vom Schnee, es ist kalt. Ich habe eine
Uhr gekauft, die Kuckuck macht, ich zeige sie dir, wenn ich wieder da
bin. Liebe Grüße – Deine Mama.“ Postkarten dieser Art sind das Einzige,
was der Erstklässler Jean vermeintlich von seiner
Mutter hat – vorgelesen vom Nachbarsmädchen. Doch warum bekommt sie
die Briefe und nicht er oder Papa oder zumindest das Kindermädchen? Und
warum benehmen sich Erwachsene ihm gegenüber immer so
komisch?
14. September 1970. Das ist Jeans erster Schultag und gleichzeitig der
Beginn des kindlich-naiven, aber gleichzeitig intelligenten,
anrührenden Comics. Die neue Lehrerin fragt die Schüler nach dem
Beruf der Eltern. Für Jean der blanke Horror! „Ich fange an in meine
Socken zu schwitzen. […] Könnte ich doch wegrennen!!!“ Denn Jean lebt
zusammen mit seinem jüngeren Bruder Paul bei dem zumeist
übelgelaunten, strengen Vater und dem gutmütigen, über alles geliebten
Kindermädchen Yvette. Seine Mutter ist nicht da, die ist Sekretärin und
auf Reisen – glaubt Jean. Denn Michèle, das zwei Jahre
ältere Nachbarsmädchen, zaubert regelmäßig Post von der abwesenden
Mutter hervor. Mal aus Spanien, wo sie von Stierkämpfen und Paella
erzählt, mal aus Afrika, wo sie auf Elefanten und andere wilde
Tiere trifft, und sogar ein Brief aus Amerika ist dabei, der von ihrem
Treffen mit Buffalo Bill berichtet. Jean ist ganz schön stolz auf seine
Mutter. Aber wieso ist sie nicht bei ihm – obwohl er
sie doch so vermisst? Er muss feststellen, dass die Erinnerungen an
seine Mama völlig ausgelöscht sind. Der Vater spricht nicht über sie,
und die wenig geliebten Großeltern vermeiden es ebenso. Nur
ein Bild von ihr, das bei den Großeltern über dem Kamin hängt, lässt
Jean träumen von einer schönen, liebevollen Mutter aus vergangenen
Zeiten. So sind die Briefe für Jean jedesmal ein ganz
besonders Ereignis, und er saugt jeden Satz in sich auf.
Jeans Mutter ist tot. Jeder weiß es, nur Jean nicht. Dem Leser wird
dies schnell klar, etwa durch das Verhalten der Erwachsenen ihm
gegenüber, wie z.B. das der ständig weinenden Freundinnen der
Oma. „Sie wuscheln uns durchs Haar und schauen uns traurig an, so, als
wären wir krank.“ Oder durch die seltsamen Fragen des schmierigen
Schulpsychologen. Doch Jean und sein Bruder tappen völlig im
Dunkeln. Durch das Schweigen und das Verwirrspiel der Anderen geistert
die Mutter schemenhaft in den Gedanken der Brüder umher.
Der französische Autor und Journalist Jean Regnaud erzählt aus
autobiographischer Perspektive in „Meine Mutter ist in Amerika und hat
Buffalo Bill getroffen“ aus dem Leben des kleinen Jean, vom
ersten Schultag bis zu den Weihnachtsferien. Die Wunschvorstellungen
und Träume Jeans sind ein wichtiger Bestandteil der Geschichte, die in
zahlreichen Bildern oftmals überspitzt und witzig
dargestellt werden. Verantwortlich für die hervorragenden Zeichnungen
ist Émilie Bravo. Zusammen realisieren er und Regnaud regelmäßig
preisgekrönte Projekte. Die vorliegende Zusammenarbeit ist
2008 auf dem Comic-Salon in Angoulême ausgezeichnet worden.
Das vom Verlag als Graphic Novel auf den Markt gebrachte Werk gliedert
sich in vierzehn verschiedenfarbig unterlegte Kapitel, jeweils mit
nachstehendem, teilweise vorausdeutendem oder
kommentierendem „Intermezzo“ und einem Epilog am Ende des Buches. Die
Seiten sind jeweils sehr abwechslungsreich gestaltet. Bravo benutzt für
seine Bilder unterschiedliche zeichnerische Elemente,
wie etwa ganzseitige Anfangsseiten als Einführung in das kommende
Kapitel, einzelne freigestellte, vor eine Farbfläche montierte Szenen
oder kleine, fortlaufende Bildpassagen. Ebenso machen die
karikaturhaften, oftmals grotesken Zeichnungen das Buch zu einem ganz
besonderen Leseereignis. Häufig kommen einige Bildpassagen auch
vollständig ohne Text aus und geben dem Leser durch genaues
Betrachten zusätzliche Informationen und eine traurige Ahnung über den
Verbleib der Mutter. So ist in einem Intermezzo der angebliche Brief
der Mutter aus Amerika abgebildet, der von
Rechtschreibfehlern nur so wimmelt, so dass dem Leser deutlich wird,
dass die Briefe vom Nachbarsmädchen selbst geschrieben wurden.
Auch durch die überzeichnete, lustige Darstellung der verschiedenen
Figuren durch Bild und Text, etwa der uralten, faltigen Verwandten, des
stummen, dafür aber ständig grinsenden Vietnamesen in
Jeans Schule oder der kettenrauchenden Oma, trägt zum Lesevergnügen
bei.
Durch die kindlich-naive Darstellung des Jungen erobert dieser sofort
das Herz des Lesers und lässt diesen trotz aller Andeutungen auf einen
glücklichen Ausgang hoffen. Der Humor des Buches ist für
junge Leser nicht durch und durch verständlich, manchen ironischen und
sarkastischen Witz werden Kinder nicht ohne Erklärung entschlüsseln
können. Somit ist das Werk, welches aufgrund seines
autobiographischen Hintergrunds voller kleiner Botschaften steckt,
auch oder gerade für ältere Leser sehr zu empfehlen. Die Autoren zeigen
mit ihren frechen, witzigen Bildern und Texten auf die
Welt des kleinen Jean. Mit „Meine Mutter ist in Amerika und hat
Buffalo Bill getroffen“ ist dem französischen Duo eine herzergreifende,
aber auch ausgesprochen lustige Geschichte für Kinder ab acht
Jahren gelungen. Äußerst empfehlenswert – ein tolles Buch!
Source: Lesebar
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